Abb. 49.
Heinrich Evangeliar
BSB Clm 4454
Reichenau, 1000–1020
fol. 20v (048)
Domschatz Bamberg
Öffnet man die Bibel mit dem prächtigen Prunkdeckel, Abb. 48.2., der zwölf realistische Pilze der Art Psilocybe semilanceata abbildet, erstrahlt diese
prachtvolle Miniatur.
Jesus schwebt inmitten des Bildes direkt unter dem mittleren Pilzhut und wandelt
mit göttlicher Macht durch die prächtige Schönheit des Paradieses (Weltenherrscher/Pantokrator).
Dargestellt sind drei prächtige Pilze, zwei Gewächse mit je drei pilzförmigen
Blättern und zwei Gewächse mit langer, spitzer Blüte, der Dreiblättrige
Feuerkolben, Kobralilie, Pilzmückenblume (Arisaema triphyllum), siehe Abb.
75.2. Die drei Pilze repräsentieren den Baum des Lebens, den Gott in die Mitte
des Garten Edens pflanzte und von der Erde bis in den Himmel ragt. Der Lebensbaum im himmlischen Jerusalem ist die ewige Nahrungsquelle, Johannes Offenbarung.
Genesis
Gen. 2, 9
Und Gott der HERR liess allerlei Bäume hervorspriessen, lieblich anzusehen und
gut zur Nahrung, und auch den Baum des Lebens mitten im Garten und den
Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen.
Gen. 2, 16
Und Gott der HERR gebot dem Menschen und sprach: Von jedem Baum des
Gartens darfst du nach Belieben essen; aber von dem Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen sollst du nicht essen; denn an dem Tag, da du davon isst,
musst du gewisslich sterben!
Gen. 3, 22
Und Gott der HERR sprach: Siehe, der Mensch ist geworden wie unsereiner,
indem er erkennt, was Gut und Böse ist; nun aber - dass er nur nicht seine Hand ausstrecke und auch vom Baum des Lebens nehme und esse und ewig lebe!
Gen. 3, 24
Und er vertrieb den Menschen und ließ östlich vom Garten Eden die Cherubim
lagern und die Flamme des blitzenden Schwertes, um den Weg zum Baum des
Lebens zu bewachen.
Visionen der Johannes Apokalypse, der Geheimen Offenbarung
Offb. 2, 7
Wer ein Ohr hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt! Wer überwindet,
dem will ich zu essen geben von dem Baum des Lebens, der in der Mitte des Paradieses Gottes ist. (Siehe auch Offb. 2, 17 „verborgenes Manna“, Abb. 3.)
Offb. 22, 2
In der Mitte zwischen ihrer Straße und dem Strom, von dieser und von jener
Seite aus, [war] der Baum des Lebens, der zwölfmal Früchte (1) trägt und jeden Monat seine Frucht gibt, jeweils eine; und die Blätter des Baumes dienen zur
Heilung der Völker.
Offb. 22, 14
Glückselig sind, die seine Gebote tun, damit sie Anrecht haben an dem Baum des Lebens und durch die Tore in die Stadt eingehen können.
Offb. 22, 19
und wenn jemand etwas wegnimmt von den Worten des Buches dieser
Weissagung, so wird Gott wegnehmen seinen Teil vom Buch des Lebens und von
der heiligen Stadt, und von den Dingen, die in diesem Buch geschrieben stehen.
(Schlachter 2000)
Thomas Evangelium
Logion 19 (p. 36, 17–25)
Jesus sagte: „Selig ist, wer war, bevor er wurde. Wenn ihr mir zu Jüngern werdet
und auf meine Worte hört, werden euch diese Steine dienen. Denn ihr habt fünf Bäume im Paradies, die sich nicht verändern im Sommer (und) im Winter, und
ihre Blätter fallen nicht ab. Wer sie kennen wird, wird den Tod nicht schmecken“.
Die Früchte der Bäume werden entgegen späteren Traditionsbildungen, z. B.:
Feige, Granatapfel oder Apfel aufgrund der Doppeldeutigkeit von lat. Malum „Böses/Apfel“ nicht spezifiziert. Die Wissenschaft vermutet, dass Ätiologien für
ein übergeordnetes Erzählziel eine präzisere Beschreibung der Früchte verhindern. Da biblische und apokryphe Ätiologien allegorisch verschlüsselt
sind, wird diese Vermutung noch verstärkt. Wie im oben angeführten Vers
Thomas Evangelium, sind die vier Extremitäten und der Kopf als fünf Bäume verschlüsselt. Werden bei der Spezifikation die frühen christlichen Abbildungen dieser Arbeit berücksichtigt, ist eine präzise Beschreibung der Früchte möglich.
Auch die Unterscheidung und genaue Definition der beiden Bäume ist komplex.
Die Bäume stehen im Verhältnis 1 : 4 (233 : 932) aus der die Fünf entsteht und werden daher mit der Auferstehung verknüpft, Abb. 5. In Gen. 3, 3 wird der singularische hebräische „Baum“ als Kollektiv (ThWAT 287), also „Bäume“
wiedergegeben.
In Gen. 2, 16 wird erklärt, du sollst nicht vom Baum der Erkenntnis essen, aber
von allen anderen. Das impliziert, dass es erlaubt ist vom Baum des Lebens zu essen. Das Verbot oder die Äusserung, dass der Mensch, nachdem er die Frucht
der Erkenntnis gegessen hat, nicht auch noch die Frucht vom Baum des Lebens essen soll, folgt dann im Vers Gen. 3, 22. So vertreibt Gott den Menschen aus
dem Paradies und schützt den Baum des Lebens mit den Cherubim und der
Flamme des blitzenden Schwertes. In Offb. 2, 7 darf der Mensch vom Baum des Lebens essen, wenn er ein offenes Ohr hat und sich überwindet.
Der Baum der Erkenntnis wächst nur im Garten Eden, während der Baum des
Lebens im Garten Eden und im himmlischen Jerusalem oder Paradies wächst.
Das impliziert ein urzeitliches und ein endzeitliches Paradies. Die Annahme einer Identität von einem urzeitlichen und endzeitlichen Paradies führte zu der
weiteren Vorstellung eines gegenwärtig, in den äussersten Fernen verborgenen Paradieses, das man sich als zwischenzeitlichen Aufenthaltsort der Seelen der verstorbenen Gerechten, wie Henoch, Elias und der Erzväter dachte.
Nach Lk. 23, 43 ist das Paradies der (zwischenzeitliche?) Aufenthaltsort der
Seelen der Gerechten. 2 Kor. 12, 4 setzt die Vorstellung des gegenwärtig verborgenen Paradieses voraus. Es ist im Dritten, obersten Himmel lokalisiert →Apokalypse des Moses 37, 5. Hier empfängt der himmelsreisende Ekstatiker
sonst unzugängliche göttliche Offenbarungen.
Nach Offb. 2, 7 ist den „Siegern“ in der Endzeit die Rückkehr in das himmlische Paradies und das Essen der Frucht vom Baum des Lebens verheissen, siehe auch →bibelwissenschaft.de.
Interessant dazu ist die Gilgameschsage nach dem 12-Tafel-Epos. Stichwort
„Kraut des Lebens“ →Tafel XI. Z. 270ff; zitiert nach TUAT III, 4, 672ff.
Der Baum des Lebens wird von der Wasser umgebenden Atlanten- oder
Terrafigur der Erde gestützt. Ihr korrespondiert der Uranos das blaue, bärtige Gesicht, Gott des Himmels. Links das Medaillon des rot strahlenden Sol Invictus vom Mithraskult oder Helios aus der griechischen Mythologie. Die blaue Luna rechts vervollständigt die Kreuzesform der Mandorla (Vesica piscis) umgebenden vier Medaillons der Naturgottheiten. In der linken Hand greift Jesus den Stiel von einem der zwei Gewächsen mit pilzförmigen Blättern, in der rechten hält er den goldenen Weltapfel. Er strahlt eine majestätische Ruhe aus, nur der seitlich wehende Stoffzipfel signalisiert zugleich Bewegung, aber nicht zu viel. Die
Farbe des Umhanges korrespondiert mit der obersten Stufe des Hintergrundes. In den vier Ecken sind weibliche sirenenartige Gestalten, sie personifizieren die lebensspendenden Paradiesflüsse. So sendet Christus vier mystische Paradiesströme in die Welt aus, die Symbole der vier Evangelien. Über den Gestalten befinden sich die nimbierten Christus Symbole, der geflügelte Mensch, Löwe, Stier und Adler, die als Inspirationsquelle für die personifizierten
Gestalten stehen. Es gibt viele Deutungen dieser vier Symbole, die Beschriebene ist die häufigste.
Die roten, runden Teile, die unten aus den Pilzhüten hängen, sind in mehreren Abbildungen zu finden. Bei Pilzen aus der ottonischen Zeit hängen meistens
zwei Teile heraus. Bei anderen immer vier, siehe Abb. 19./20. Im unteren Teil der
Mandorla links und rechts sind Gewächse mit teilweise weissem Stiel und einer
sehr lang gezogenen, spitzen Frucht mit einem Punkt darin (Arisaema
triphyllum).
Interessanterweise zeigt die folgende Abbildung (Abb. 50.) denselben
Hintergrund. Perikopenbuch Heinrich II. - BSB Clm 4452. Er wird von der Wissenschaft als eine Art undurchsichtige Materie aufgefasst, [2]. Alle anderen Miniaturen haben einen Goldgrund. Dasselbe gilt bei genauer Betrachtung auch
für diese Prachtbibel, BSB Clm 4454. Jesus mit drei grossen Pilzen wird jeweils nur in diesen beiden Miniaturen mit dieser mysteriösen, undurchsichtigen, violetten Materie dargestellt. Abb. 55. Bamberger Apokalypse - Ms. Bibl. 140, zeigt im obersten Bildteil ebenfalls den mysteriösen Hintergrund und drei Pilze. Interessanterweise hat Violett die höchste Frequenz im optischen Spektrum des Menschen.
Prachtbibel
Miniatur auf Pergament
Seitengrösse: 22,1 × 27,8 cm
Miniaturgrösse: 14,5 × 17,0 cm
(1) Abbildungen mit zwölf Pilzen und Kombinationen davon:
19./48.2./82./95./96./112.2./117.2.
Baum des Lebens als Pilz oder Pilze dargestellt: Abb. 19./49./69.2./93./111.
In der Arbeit von Dr. Katharina Winnekes, Christus in der bildenden Kunst [1], behandelt Winnekes diese Prachtminiatur auf S. 25, (Abbildung auf S. 35). Die
drei Pilze als zentrales Motiv oder als Lebensbaum werden nicht erwähnt.
Winnekes Arbeit wurde veröffentlicht von der Kunst-Station St. Peter, Köln, die
von Jesuiten geleitet wird.
Diese Miniatur wird auch vom Faksimilehersteller, Verlag Müller & Schindler Stuttgart, ausführlich ikonologisch behandelt. Wieder werden die drei Pilze als zentrales Motiv oder als Lebensbaum nicht erwähnt, lediglich, dass die drei
Blätter jeweils „pilzförmig“ sind.
Bezüglich ikonografischer Forschung in der Wissenschaft der christlichen Kunstgeschichte und Ignorierung christlicher Pilzabbildungen siehe:
Abb. 5. Dr. Erwin Panofsky
Abb. 30.2. Bernwardtür, Dom zu Hildesheim, 1015
Abb. 49. [1] Dr. Katharina Winnekes
Abb. 50. [2] Hermann Filitz, Rainer Kahnsitz, Ulrich Kuder
Abb. 51. [2] Hermann Filitz, Rainer Kahnsitz, Ulrich Kuder
Abb. 52.1. [3] Heinrich W. Pfeiffer
Abb. 97. [4] Josef Riedmaier
Abb. 117.1. Wilton-Diptychon, Altarbild, 1395–1399
[1]
Christus in der bildenden Kunst, Dr. Katharina Winnekes,
Kunst-Station St. Peter, Köln
Mitarbeiter:
Dr. August Heuser, Diözese Rottenburg-Stuttgart
Prof. Dr. Friedhelm Mennekes, Kunst-Station St. Peter, Köln
Giovanna Piscane-Rudorf, Kunst-Station St. Peter, Köln
Kösel-Verlag GmbH & Co., München. 1989
Bildquelle: Bayerische Staatsbibliothek